Lesenswert

Vincent van Gogh "Die Romanleserin", 1888
"Die Romanleserin", 1888

1) Herman Melville: Bartleby, der Schreiber.

Neu übersetzt und sehr schön eingerichtet im FAZ-Lesesaal (http://blogs.faz.net/lesesaal). 

 

Eines Tages beschließt Bartleby, ein hagerer, blasser Kanzleischreiber, aus seinem bisherigen Leben auszusteigen. Seine neue Devise heißt:

 

I would prefer not to. (Ich möchte lieber nicht.)

 

Er verliert den Job, macht sich viele Feinde und kommt schließlich ins Gefängnis, wo er stirbt, weil er neben der Kommunikation auch die Nahrung verweigert. Ein komischer Don Quichotte der Passivität, dessen sanfte Renitenz dem Leser nicht so schnell aus dem Kopf geht.

 

Also lesen. Oder hören. Oder es lassen. Darin zeigt sich vielleicht am ehesten der fortgeschrittene Bartleby-Leser: I would prefer not to.

2) Wilhelm Genazino: Leise singende Frauen.

Wer nach Ein Regenschirm für diesen Tag und Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman noch nicht Genazino-Fan ist, kann es hier werden. Es sind kleine Capriccios im typischen Genazino-Sound mit den typischen skurrilen Alltagsbeobachtungen. Aneinander gereiht ergeben sie tatsächlich einen Roman, doch sie lassen sich auch gut einzeln lesen.

 

So wenn die Brötchen plötzlich Krustis heißen, weil das nun im Trend liegt, oder der Ich-Erzähler sich an den Jungen erinnert, der nur halbtags leben wollte. Die leise singenden Frauen aus dem Romantitel, es sind Griechinnen, hört er, als er an einem Krankenhaus mit geöffneten Fenstern vorbeigeht, bald stimmen die Amseln im Park in den Gesang mit ein. Dann kommt in der Klinik eine völlig überflüssige Durchsage, Frauen und Amseln verstummen - das Geschenk des Poetischen ist widerrufen.

 

Der ganze Genazino ist in dieser Miniatur enthalten. Kurios, marginal, sehr poetisch, oft witzig. Bei ihm ist die Achtsamkeit keine hohle Phrase, er lebt sie.

3) Odo Marquard: Endlichkeitsphilosophisches (Über das Altern)

Können Philosophen witzig sein ? Wortwitzig, sprachwitzig gar ? Gut, es gibt den Solitär Nietzsche. Lachen und Tanzen sind für ihn Zeichen höchsten Erkenntnisglücks. Von seinem Witz können andere nur träumen. Und es gibt die Galligkeit Schopenhauers, die Luzidität Voltaires, die Neugier Bergsons, der ein eigenes Buch über das Lachen schrieb. Danach aber muss man schon länger überlegen. Wittgenstein konnte witzig sein, wenn er nicht gerade mit dem Schürhaken auf einen Besucher losging; er liebte das Sprachspiel, den verblüffenden Witz, die Lust am Fragen jenseits der Systeme. Und Adorno natürlich, der Meister des intellektuellen Witzes. Und heute ? Sloterdijk, wenn er gut drauf ist: Da ist viel Lust an der funkelnden Pointe zu spüren. Slavoj Zizek, wenn er gerade mal wieder den Turbo-Kapitalismus niedermacht. Aber sonst ?

 

Odo Marquard, der 2015 verstorbene Gießener Philosoph, hatte von allem was: Er besaß großes Sprachvermögen, konnte ironisch und selbstironisch sein, war souverän gegenüber Vereinnahmungen von links und von rechts und verstand den Humor als Ort des sub specie aeternitatis. Sein Wortungetüm von der Inkompetenzkompensationskompetenz, auf Politiker (und nicht nur sie) gemünzt, machte Karriere. Dabei war es nicht einmal böse gemeint; die Fähigkeit zu kompensieren hatte hohen Stellenwert im Denken dieses Philosophen. Sie erschien ihm als das wahrhaft Humane. Ihn (wieder) zu entdecken, lohnt.

 

Und hier schon mal eine Kostprobe:

"Ich aber schlafe gern. Meine Weltabwehr absolviere ich nicht durch philosophische Kritik, sondern durch Schlafen. Meine Leidenschaft - abgesehen vom Verfassen solcher Texte (denn strenggenommen habe ich im Leben ja nichts anderes gelernt) - meine Leidenschaft ist das Schlafen in all seinen Formen: als Mitternachtsschlaf, als möglichst früher Abendschlaf, als lang dauernder Morgenschlaf, und vor allem und ausgedehnt als Mittagsschlaf. Ich hoffe und vertraue auf einen Gott, der mich nach meinem Tode nicht auferweckt, sondern schlafen lässt."

4) Hartmut Rosa: Resonanz

 

Wir sagen es jetzt mal ganz unakademisch: Dieses Buch ist eine Wucht ! Und: Wer es liest, kann sich zehn andere Bücher sparen.

 

 Worum geht es ? Nun, Hartmut Rosa, Jahrgang 1965, seines Zeichens Professor für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, hat ein gut 800seitiges Buch zum Thema „Resonanz“ geschrieben und damit nicht weniger als „Eine Soziologie der Weltbeziehung“, so der Untertitel, geliefert. Resonanz beschreibt dabei das Verhältnis des Individuums zur Welt. Das klingt abstrakter als es ist. So geht es im Kapitel „Körperliche Weltbeziehungen“ um so handfeste Dinge wie Atmen, Essen und Trinken, Stimme, Blick und Anlitz, Gehen, Stehen und Schlafen und schließlich Lachen, Weinen und Lieben. Also um die basics, das, was man früher die conditio humana genannt hätte, die Grundkonstanten menschlichen Seins.

 

Rosas Theorie geht nun so: Sind die Signale, die der Mensch in die Welt sendet, lebendig und echt, bekommt er aus der Welt eine Antwort, die Resonanz. Sind sie leer und tot, bleibt diese Antwort aus und es stellt sich ein Gefühl der Entfremdung ein. Der Mensch steht schief in der Welt, sendet wirres Zeugs aus und bekommt statt einer Resonanz Schweigen oder wertloses, sinnloses Geblubber. Letzteres macht ihn auf Dauer krank. So schreibt Rosa zum Thema Schlafstörungen:

  

Einschlafen setzt die Bereitschaft, sich fallenzulassen und zugleich die Welt loszulassen, voraus. Diese Bereitschaft vermag nur aufzubringen, wer der Welt einen minimal tragenden oder bergenden Charakter zuschreiben kann.“

 

Denn letzten Endes, so das Fazit, ist die Schlafstörung nur Zeichen eines gestörten In-der-Welt-Seins. Dass dies nicht mit Pillen zu bekämpfen ist, leuchtet ein. Rosa gelingt es also, die scheinbar naturwüchsige Selbstverständlich von Krankheit zu entzaubern. So auch bei Rückenschmerzen, Knochenbrüchen, Einsamkeit oder anderem, das wir gerne als gottgegeben anzusehen uns angewöhnt haben. Aber es geht auch um Familie, Religion, Kultur, Sport und Konsum, kurz um alle Versuche, die gestörte Resonanz auf künstliche Weise doch noch herzustellen.

 

Mit einem Wort: ein ganz wunderbares Buch. Zehn Jahre hat der Autor daran gearbeitet und sein gesamtes Umfeld dafür eingespannt. Das Ergebnis ist ein gescheites, amüsantes, zur Reflexion einladendes, gut lesbares Buch.