Lyrik


 Luftgeister

 

Wörter, die ich mag (I):

 Obhut, Höhle, Rückgrat, fliederfarben, Hitzkopf und Schwarmgeist.

 Auch das alte Wort „Brausekopf“ ist ganz wunderbar. Und natürlich

 Wörter wie Traumtänzer, Gustav Mahler, Münchner Freiheit,

 Dämmerung, Erlösung. Pessoa, Unterschlupf, anschmiegsam,

 Schäferstündchen, der gute Hirte, Seele. (Gerne auch: deutsche

 Seele, schönen Gruß an Thea Dorn.)

 Und die magischen Plätze:

 Die Bucht von Cirali, mondbeschienen und erhaben; das Cabo

 Sao Vicente am Rande Europas, unten der Atlantik, tosend,

 klar, das Paradies, der Tod;

 oder auch Jogger mit iPod im Jardin des Plantes, der Hibiskus,

 die Kieswege, die Erinnerung an Rilke -

 Sehnsuchtsorte, Sehnsuchtsworte.

 

Die Sprache, die dicke Joppe gegen das Schneidende der Realität.

 Eingehüllt in sie, überlebt man, vielleicht.

 Eingehüllt in sie, ist alles schöner als es ist, manchmal.

 Die Schaumkrone auf dem Pils, die Menschen, die Gedanken,

 die Hände von Frauen, ihr Mund, ihr Hals, ihre Augen.

 Nie, mein Lieber, war die Luft so frisch, so gesprächig und so gebärfreudig.

 Nie der Himmel so vertraut, so schweigsam und so zum Greifen nah.

 Der Mond so blau, so voller Phantasie, mit weißen Handschuhen.

 

 Wörter, die ich ebenfalls mag (II):

 Gasthaus, Gaslaterne, Bergwiese, Jause, Kaminfeuer, Musik.

 Wattenmeer, Frauengeheimnisse, Luftkissen, Sehnsucht, Poesie.

 Aber auch:

 Buttersemmel, Vorspiel, Feierabendbier, Trostpreis, Erdmännchen, Gute-Nacht-Kuss.

 Und alles mit Sonne (bis auf Sonnenbrand, klar):

 sonniges Gemüt, Sonnenaufgang, Sonnenschirm, Sonnenbrille.

 Sehr gefällt mir auch das Wort brunzdumm. Und das Wort Holz.

 Schön auch: bekömmlich. Es schmatzt vor Behagen. Und natürlich:

 fluffig, es ist so leicht wie Luft, wie Blätterteig; außerdem

 Rettungsring, Lesebrille, Blutkonserve, Vorfreude, Almrausch;

 nur schöner noch

 ist das Bekenntnis der Wislawa Szymborska: „ich weiß nicht“

 (ihr war der kleine Ruhm lieber als der große),

 und das wichtigste Wort überhaupt: Erzähl -

 irgendwann werden wir uns alles erzählen, heißt ein

 Roman, und man fragt sich, ob

 es ein schöneres Ziel gibt -

 die Aura, die diese Wörter hervorrufen, sie gefällt mir,

 in ihr kann man sich einrichten für einen Moment

 oder zwei, für einen Spaziergang am Strand von Usedom

 vielleicht –

 die Aura, die Bilder,

 die blauen, die weißen, die verschwommenen,

 die Metaphern, die Ironie, Wehmut und Melancholie,

 wenn im Haus am Wald das Licht angeht und die

 Geschichten vom Verwünschen und vom Finden beginnen,

 wie das Evergreen von Sisyphus, der

 seinen Stein rollt, jeden Tag neu, jeden Tag

 mühsamer und verzweifelter ….-

 Wie absurd, Monsieur Camus, ihn sich

 Als glücklichen Menschen vorzustellen !

 

 Weil wir schon mal da sind, schnell

 noch einen Blick in die Werkstatt,

 auf die Goldwaage, die filigrane,

 auf die Tanzfläche, die spiegelnde,

 hinauf auf das Drahtseil, das federnde.

 Überall ist Sprache, überall; wie im Winter der Schnee,

 So liegt die Sprache auf der Welt; sie deckt sie zu -

 und deckt sie auf, ist Hilfe und Last,

 Schaufel mal, mal Schmerztablette,

 Zufluchtsort und Glückskatapult -

 wird sie überladen, so stürzt sie ab -

 Und wir mit ihr.

 Wird sie hohl, so fühlen

 Wir uns selbst ausgehöhlt.

 Nichtig.

 

 Willkommen im Korallenriff der Sprache,

 des Sprechens, des Schreibens, des Verstummens.

 Willkommen am Ort des Stammelns und Stotterns,

 im weißen, wortlosen Rauschen der Gegenwart,

 in der Tiefe des orphischen Gesangs.

 Nichts als Zauber ist hier,

 Zauber und Ernüchterung,

 Ton und Nicht-Ton und Zwischenton,

 Camouflage und Desillusion.

 Und willst du wissen, wie es geht, mein

 Lieber, dann sag ich dir: Hinschauen,

 einfühlen, nachdenken, aufschreiben, verwerfen.

 Und wieder: hinschauen, einfühlen,

 nachdenken, aufschreiben, verwerfen.

 Hinschauen, aufschreiben,

 hinschauen, aufschreiben,

 verwerfen, verwerfen, verwerfen,

 wieder und wieder,

 Systole und Diastole -

 und wenn ein Jota nicht stimmt:

 weg damit.

  

Mehr muss nicht sein. Weniger,

mein Lieber, weniger auch nicht.